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Selbstmanagement zwischen Freiheit und Erwartungen

Warum (und wie) Führungskräfte ihr Team dabei unterstützen müssen

von Timm Urschinger, LIVEsciences*

Der Ruf nach Selbstmanagement, Selbstverwaltung und Selbstorganisation wird immer lauter. Ohne Zweifel müssen Unternehmen diesem Ruf gerecht werden. Sie brauchen dezentrale statt der bisherigen traditionellen Strukturen, um in Zukunft zu überleben. Dazu gehören weiterhin Führungskräfte, die ein Team in diesem Prozess begleiten.  

Kunden, Mitarbeitende und andere Gruppen stellen immer höhere Anforderungen. Leider hindern Hierarchien und Zentralisierung viele Unternehmen daran, sich so schnell wie nötig weiterzuentwickeln und auf diese Anforderungen zu reagieren. Eine kleine Studie  aus dem Jahr 2020 ergab, dass 100 % der Unternehmen mit dezentralen Managementstrukturen ein positives Wachstum der Kapitalisierung am Markt verzeichneten, während nur 33 % der Unternehmen mit traditionellen Strukturen dies von sich behaupten konnten. Alles spricht also für einen neuen Weg, ein neues Denken und Handeln, das alte Muster aufbricht, andere Strukturen schafft und so für Unternehmer, Führungskräfte und Mitarbeitende ein modernes Rollengefüge sowie mehr Selbstorganisation ermöglicht.

Vertrauen und Bestätigung statt Befehl und Kontrolle
Selbstverwaltung am Arbeitsplatz wird oft mit einem Unternehmen ohne formale Hierarchie gleichgesetzt. Das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Die Mitarbeitenden in selbstverwalteten Unternehmen haben die Freiheit, ihre Zeit und ihre Arbeit so zu organisieren, wie es ihren individuellen Bedürfnissen am besten entspricht. Sie wissen aber auch, was von ihnen erwartet wird und dass ihre Beiträge zu den übergeordneten Zielen des Unternehmens beitragen müssen. Organisationen, die mit selbstverwalteten Teams arbeiten, sind also nach wie vor darauf angewiesen, dass „Vorgesetzte“ Input geben und manchmal sogar Anweisungen erteilen. Dies geschieht jedoch eher auf der Basis von "Vertrauen und Bestätigung" als im traditionellen Stil von "Befehl und Kontrolle". Eine dezentralisierte Managementstruktur hat viel mit Eigenverantwortung zu tun und damit, allen Mitarbeitenden diese wichtige Eigenschaft zu vermitteln. Richtig kommuniziert und umgesetzt, finden die Menschen mehr Sinn in ihrer Arbeit. Einigen Studien  zufolge führt Selbstmanagement bei den Mitarbeitenden zu mehr Motivation und Arbeitszufriedenheit als traditionelle Arbeitsstrukturen.
Die Herausforderung als Unternehmer oder Führungskraft besteht darin, die Richtung vorzugeben und die Balance zwischen größerer Autonomie und dem Wachstum des Unternehmens zu wahren. Ohne diese Orientierung führen Entscheidungen möglicherweise nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Ein Mangel an Orientierung hat allerdings auch noch eine ganz andere Auswirkung: Mitarbeitende stellen Verantwortlichkeiten in Frage. Die Folgen sind unnötige Revierkämpfe und Abteilungssilos. Schaffen es Unternehmen gemeinsam mit ihren Führungskräften allerdings, des Selbstmanagements am Arbeitsplatz zu kultivieren, dann können sich Mitarbeitende besser auf die Zukunft vorbereiten und ihre Fähigkeiten zur Förderung des individuellen Wachstums einsetzen. Das Wachstum des Unternehmens folgt!

4 Tipps für Führungskräfte: Aufbau von Selbstmanagementfähigkeiten im Team 
Unternehmen, die ihr Management dezentralisieren und mit selbstverwalteten Teams arbeiten wollen, streben eine komplett neue Struktur an. Das geht nicht von heute auf morgen! Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitenden dabei helfen, die notwendigen Fähigkeiten zur Selbstorganisation zu entwickeln:

  1. Ermutigen Sie die Teammitglieder, sich selbst zu verwirklichen
    Äußerer Wandel erfordert zuallererst inneren Wandel. Der persönliche Entwicklungsweg jedes Teammitgliedes ist der Schlüssel zum Aufbau von Selbstmanagementfähigkeiten. Dafür müssen Mitarbeitende erst einmal ihre Ziele, Werte und Glaubenssysteme entdecken. Ikigai  ist ein Konzept, das jedem Menschen die Möglichkeit bietet, herauszufinden, was das eigene Leben lebenswert macht, d.h. was er oder sie liebt, was er/sie gut kann, was er/sie zur Welt beitragen kann und wofür andere ihn/sie gerne bezahlen. Um darüber hinaus Teammitgliedern dabei zu helfen, sich selbst auszudrücken, muss das richtige Umfeld geschaffen werden. Die Mitarbeitenden brauchen einen sicheren Raum, in dem Authentizität geschätzt wird. Es kann für Menschen schwierig sein, sich zu äußern, wenn es ihnen unangenehm ist, Ideen, Meinungen oder Emotionen zu teilen, oder sie dafür sogar in irgendeiner Weise verurteilt werden. 

    To-Think/To-Do: Schaffen Sie einen sicheren Raum und fangen Sie an, wirklich zuzuhören. Unterstützen Sie Teammitglieder, wenn sie das Gefühl haben, dass diese sich nicht ausdrücken können. Würdigen Sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Mitarbeitenden. Stellen sie ihre eigene Meinung einmal hinten an, sofern sie nicht einen ernsthaften Einwand (z. B. signifikantes Risiko für die Firma/das Geschäft) haben und lassen Sie Mitarbeitende eigene Erfahrungen machen.
     
  2. Legen Sie Ziele und Pläne fest, die Spontaneität fördern
    Bis zu einem gewissen Grad wird menschliches Verhalten durch Strukturen gesteuert. Da die Summe der kollektiven menschlichen Verhaltensweisen eine Kultur bildet, ist ein Balanceakt erforderlich, wenn es um die Hierarchie einer selbstverwalteten Teamstruktur geht. Selbst die kleinste Ungleichheit in den zentralen Prozessen kann die Autonomie einschränken und die Menschen daran hindern, spontan zu sein, wie es dem Unternehmen dienlich wäre. Das Erlernen von Spontaneität – oder zumindest die Unterstützung von mehr Spontaneität am Arbeitsplatz – hängt oft mit Plänen und Zielen zusammen. Pläne, insbesondere langfristige, können sich ändern. Führungskräfte müssen diese Tatsache verstehen und dem Team vermitteln. Das soll nicht heißen, dass eine Organisation ohne Struktur arbeiten sollte, sondern vielmehr mit einer Struktur, die organisch ist, um Kreativität, kritisches Denken und intrinsische Motivation zu fördern. Für Unternehmen geht es meiner Erfahrung nach vor allem darum, bewusste Entscheidungen zu treffen, was WIRKLICH gesamthaft für alle geregelt sein sollte – und was für kleinere Bereiche oder Teams genügt. Die Tendenz in traditionellen Firmen ist: zu viel "global" für alle. Die Lösung ist eher ein Menü anzubieten, basierend auf Prinzipien und einem Gesamtkonzept, als vorzuschreiben, was gegessen werden sollte. Vergleichbar mit dem Besuch in einem guten Restaurant. 

    To-Think/To-Do: Achten Sie bei der Planung auf Lücken zwischen dem eigentlichen Plan und den möglichen Ergebnissen. Genau hier bieten sich Möglichkeiten für schnelles Lernen. Bei größeren Initiativen schaffen Sie mit kleinen, schrittweisen Aktivitäten die notwendige Flexibilität und Beweglichkeit, um zu scheitern und daraus zu lernen, bevor Mitarbeitende schließlich erfolgreich sind. Gliedern Sie die Dinge auf und geben Sie gerade genug Details an, um die Richtung vorzugeben, ohne die Autonomie oder Spontaneität einzuschränken.
     
  3. Sorgen Sie für Transparenz bei der Entscheidungsfindung
    Unternehmer und Führungskräfte gehen bei der Entscheidungsfindung nicht immer transparent vor und behandeln Informationen als etwas, das man haben oder wissen muss. Obwohl es Situationen gibt, in denen dies zutrifft, können fehlende Details das Verständnis einschränken und zu weniger effektiven Entscheidungen führen. Mit Ausnahme bestimmter gesetzlicher Datenschutzverpflichtungen sollten Mitarbeitende Zugang zu notwendigen Geschäftsinformationen haben. Auf diese Weise können Unternehmen die kollektive Intelligenz und Zusammenarbeit des Teams nutzen. Es kann auch das "Ego" beseitigen, das sich oft entwickelt, wenn Menschen im Rang aufsteigen. Was Entscheidungen anbelangt, so können in einer selbstverwalteten Teamstruktur alle Mitarbeitende ihren Beitrag leisten – natürlich mit ein oder zwei Einschränkungen, beispielsweise wenn es um erhebliche Kosten geht. 
    To-Think/To-Do: Wenn sich eine Entscheidung auf bestimmte Gruppen auswirkt, ermutigen Sie die Entscheidungsträger im Team, sich von diesen Gruppen beraten zu lassen. Empfehlungen aus verschiedenen Blickwinkeln können Lösungen ans Licht bringen, die sonst nicht möglich wären, und helfen, blinde Flecken zu vermeiden, die ein Unternehmen gefährden könnten.
     
  4. Widerstehen Sie "vorgetäuschter" Harmonie
    Nur wenn die Teammitglieder über ihren Selbstwert nachgedacht haben, werden sie das Vertrauen und die Kraft haben, in einer selbstverwalteten Teamstruktur zu gedeihen. Es ist jedoch nicht leicht, dem Selbstmanagement Priorität einzuräumen. Man muss sich von der Idee der Harmonie lösen und sich auf die Spannungen einlassen, die am Arbeitsplatz unweigerlich entstehen. Andernfalls wird die Positivität zu einer Illusion, die zerbricht, wenn die Hindernisse wachsen. Das Unternehmen Zappos hat beispielsweise Holacracy , eine Form der Strukturierung von Organisationen mit dem Ziel des Abbaus von Hierarchien, eingeführt, es aber versäumt, die großen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Unternehmenskultur anzugehen . 
    To-Think/To-Do: Nutzen Sie die oben genannten sicheren Räume, um offen zu diskutieren, was in Ihrem Team vor sich geht. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und ermutigen Sie auch Ihre Mitarbeitenden, aktiv zuzuhören. So gelingt es, die Standpunkte der anderen Parteien zu verstehen (das Gehirn kann sehr gut unterscheiden zwischen Verstehen und Einverstanden sein), sowie die Verantwortung für die eigene verbale und nonverbale Kommunikation zu übernehmen. Scheuen Sie nicht vor konstruktiven Konflikten zurück. Begegnen Sie diesen direkt, ohne Schuldzuweisungen und Diskussionen über richtig oder falsch. Nutzen Sie die Situation, um den Teammitgliedern zu helfen, als Individuen zu wachsen. Wenn nötig, können Sie als Vermittler agieren oder einen Vermittler hinzuziehen, um gemeinsam mit den Beteiligten eine Lösung zu finden. Hilfreich dafür ist beispielsweise Patrick Lencionis Pyramide  mit seinen 5 (Dys-)Funktionen eines Teams.

Der Übergang zum Selbstmanagement
In der Vergangenheit wurden von Führungskräften oft Budgets, Zielerreichung, Zeiterfassung und mehr kontrolliert. All dies ist auch in der selbstorganisierten Zukunft wichtig, allerdings wird dies jeder für sich selbst oder gemeinsam mit dem Team tun. In selbstverwalteten Unternehmen gibt es zum Beispiel keine zentrale Zeitbuchung mehr. Jeder achtet darauf, dass er nicht zu viel oder zu wenig arbeitet, je nach arbeitsrechtlichen Bestimmungen und individuellen Möglichkeiten. In selbstverwalteten Organisationen ist jeder ein Manager. Demzufolge wird sich auch die Rolle der Führungskraft im Laufe der Zeit ändern. Glücklicherweise bringt diese neue Struktur viele Vorteile für den Einzelnen und das Unternehmen mit sich. Tragen Führungskräfte dazu bei, das Selbstmanagement am Arbeitsplatz zu fördern, kann die damit einhergehende Eigenverantwortung zu einer höheren Mitarbeiterbindung führen, da die Arbeitszufriedenheit steigt. Selbstverwaltung fördert die Innovation, schafft einen fließenden Ressourcenfluss, der die Arbeitsabläufe verbessert, und ermöglicht es den Teammitgliedern, flexibler auf sich ständig verändernde Märkte zu reagieren. Selbstverantwortliche Führungskräfte in einem selbstorganisierten Unternehmen werden die Vorteile eines kontinuierlichen selbstverwalteten Team- und Geschäftserfolgs ernten.

* Timm Urschinger

ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren. www.livesciences.com

Über LIVEsciences
LIVEsciences ist ein experimentierfreudiges Berater-Team, dessen Vision es ist, den Erfolg von Unternehmen und Organisationen zu katalysieren. Zentrale Bausteine sind das Potential der Menschen zu entfalten sowie Problemlösungstechniken zur Selbsthilfe. Das Ziel ist eine sich selbst organisierende Kultur als Basis für Innovation und Wachstum in einer sich schnell verändernden Welt. Namhafte Konzerne wie Roche, Siemens, Novartis, Bayer, Boehringer Ingelheim sowie beispielsweise auch die Basler Kantonalbank und die Schweizer Bundesbahn setzen bereits auf das Knowhow, die Erfahrungen und die Werte der Katalysatoren.